Grebenstein. Es war für alle Beteiligten eine Premiere: Für die Schülerinnen und Schüler der Abgangsklassen der Heinrich-Grupe-Schule Grebenstein und auch für den Journalisten und Historiker Dr. Martin Doerry, der am letzten Montag im Januar aus seinem Buch „Lillis Tochter. Das Leben meiner Mutter im Schatten der Vergangenheit – eine deutsch-jüdische Familiengeschichte“ las.
Das im Herbst 2023 erschienene Buch thematisiert das Trauma seiner Mutter Ilse Doerry, die nicht nur den frühen Verlust ihrer eigenen Mutter Dr. Lilli Jahn erlebte, sondern auch zeitlebens versuchte, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Das Trauma des Verlusts der von den Nationalsozialisten in Auschwitz ermordeten Mutter, die Verantwortung des Mädchens für die jüngeren Geschwister, die fortwährenden Ressentiments auch nach Ende des NS-Regime, hatten bei Ilse Doerry tiefe Spuren hinterlassen. Zudem litten sie und ihre Geschwister darunter, dass ihr Vater Ernst Jahn Verantwortung am Tod Lillis trug. Darüber hatten Ilse Doerry und ihre Geschwister jahrelang geschwiegen. Doerry las Auszüge und während dieser 50 Minuten herrschte in der Neuen Aula gebannte Aufmerksamkeit. Interesse, Betroffenheit, Nachdenklichkeit – all das zeigte sich in den Gesichtern der Jungen und Mädchen.
Von der Gelegenheit, im Anschluss Fragen zu stellen, machten die künftigen Schulabgänger regen Gebrauch und dabei drehte sich nicht alles um den Inhalt des Buches. Doerry ging auf jeden Beitrag ein, antwortete zu seiner Religiosität, möglichen Schreibblockaden und Zeiträumen, bis ein Buch erscheine und fand hier einen guten Zugang zu seinem Publikum. Gefragt, wie die Geschwister seiner Mutter auf das Projekt reagierten, aus den Briefen ein Buch entstehen zu lassen, berichtete der Hamburger, dass sie zunächst nicht begeistert gewesen seien. Das Thema sei zu privat, habe ein Argument gelautet. Schließlich habe die Einsicht in die politische Notwendigkeit, über das Thema zu berichten, zu Akzeptanz geführt. Mit einem emotionalen Beitrag meldete sich eine externe Zuhörerin zu Wort. Sie schilderte, dass sie an der Jacob-Grimm-Schule, der Bildungseinrichtung, die auch Ilse Doerry besucht hatte, ihr Abitur abgelegt und später in Immenhausen als Lehrerin gearbeitet habe. Die Lesung in Grebenstein hatte bei der älteren Dame sichtlich für Emotionen gesorgt: „So etwas wie heute hier an dieser Stelle, habe ich noch nicht erlebt.“ Sie erzählte, dass auch in ihrer Familie zu viel geschwiegen worden sei und endete mit dem Rat an die Jugendlichen: „Seid neugierig!“ Auf ihren Appell folgte lebhafter Applaus. Den gab es auch nach einem Bekenntnis von Martin Doerry. Dieser war gefragt worden, mit welchem Ziel er sein 2. Buch hatte schreiben wollen. „Zunächst einmal wollte ich die Frage beantworten, was aus dem Mädchen geworden ist. Je älter man wird, desto größer wird das Interesse, mehr über die eigene Familie zu erfahren.“ Gleichzeitig betonte er, dass es wichtig sei, heute solche Geschichten zu erzählen und leitete über zu einer Wahrnehmung, die er beim Betreten der Schule gemacht habe: „Als ich die Treppe zur Aula hochging, sah ich an den Stufen viele Begriffe wie Wertschätzung, Respekt, Empathie und Toleranz. Da war ich ganz beglückt!“
Sein Plädoyer: „Das sind die Basics, nur darum geht es. Es gibt keinen Grund, Juden zu hassen, Menschen zu hassen, die anders sind. Wir müssen das Anderssein tolerieren. Wenn man diese Begriffe beherzigt, dann ist die Gesellschaft zu Demokratie fähig.“
Im Anschluss an die Veranstaltung in Grebenstein las Doerry an der Albert-Schweitzer-Schule Hofgeismar vor den Geschichtskursen der Q3.
Susann Adam